Krankheiten und Co.: Wie viel Ehrlichkeit am Arbeitsplatz ist gesund?
In einer Gesellschaft, die Erfolg und Leistungsfähigkeit zum Leitbild hat, haben es Menschen, die diesem Bild nicht oder nicht dauerhaft entsprechen können, schwerer, einen Job zu finden oder sich am Arbeitsplatz zu integrieren. Auch wenn sie fachlich eine hohe Qualifikation haben, sorgen gesundheitliche Einschränkungen dafür, den Beruf nicht immer wie gewollt ausüben zu können. Was sollten Betroffene tun? Ihre Krankheit am Arbeitsplatz thematisieren oder lieber verschweigen?
Wie offen geht man mit Einschränkungen oder Krankheiten im Job um?
Ein Beinbruch, eine Verletzung am Kopf oder ein blauer Fleck – solche sichtbaren Wunden sorgen für interessierte Nachfragen: „Was ist dir denn passiert?“ – „Ich hab‘ am Wochenende Basketball gespielt, und mich richtig reingehängt“. Damit lässt sich noch kokettieren. Klar, die Person hat sich besonders angestrengt und entspricht damit dem Bild des Leistungsmenschen.
Bei nicht sichtbaren Krankheiten sieht es anders aus. Zwar waren psychische Krankheiten wie Depressionen 2019 mit 19 Prozent auf Platz 1 der Gründe für Krankheitsausfälle am Arbeitsplatz und sollten damit in der Gesellschaft angekommen und akzeptiert sein. Dennoch werden Betroffene immer noch stigmatisiert. Denn häufig wird die Verantwortung für ihre Krankheit ihnen selbst zugeschrieben. Dass psychische Krankheiten jedoch auch vererbt werden, hormonelle Ursachen haben können oder aufgrund von Traumata entwickelt werden, wird dabei außer Acht gelassen. Mit welchen Problemen Depressionskranke im Alltag zu kämpfen haben, kann man z. B. unter dem Hashtag #notjustsad auf Twitter verfolgen.
Sollte man über seine Krankheit sprechen, auch wenn man sie nicht sieht?
Über etwas sprechen, das man nicht sieht und das auch keinerlei Einschränkungen zur Folge hat, brauchen Sie gar nicht sprechen. Wenn Sie aber mit Einschränkungen zu kämpfen haben und Sie befürchten, dass man über Sie schlecht redet oder Gerüchte gestreut werden, sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie Ihre Krankheit und die damit verbundenen Auswirkungen thematisieren.
Es macht sicherlich einen Unterschied, ob Sie sich gerade auf Jobsuche befinden oder schon bei einem Arbeitgeber eingelebt, die Probezeit erfolgreich überstanden und vielleicht sogar einen unbefristeten Vertrag haben.
Vorweg: Rechtlich verpflichtet zur Angabe Ihrer Krankheit sind Sie nicht. Das regelt das Allgemeine Gleichstellungsgesetz. Ihren Arbeitgeber haben Krankheiten und Behinderungen (selbst wenn Sie einen Behindertenausweis haben) genauso wenig zu interessieren wie Ihre sexuelle Identität, Ihre Parteizugehörigkeit oder Ihre Hobbies.
Wenn Sie gerade auf Jobsuche sind
Schon im Anschreiben Ihren Gesundheitszustand zu erwähnen, birgt die Gefahr, dass Ihre Bewerbung direkt zur Seite gelegt wird, ohne dass man Sie zu einem Vorstellungsgespräch (mehr zum Thema in unserem Blogartikel) einlädt.
Wenn Ihre Bewerbung jedoch Interesse geweckt hat und Sie zum Gespräch eingeladen wurden, ist dies eine andere Sache. Sie haben schon einmal die Bestätigung, dass die Firma an Ihrer Kompetenz interessiert ist.
Im Vorstellungsgespräch geht es dann darum herauszufinden, ob Sie auch menschlich zueinander passen würden und sich vorstellen können, in die Unternehmenskultur einzufügen. Wenn Sie sich das grundsätzlich vorstellen können und sich im Gespräch wohlfühlen, können Sie das Ende des Gesprächs dazu nutzen, Ihre gesundheitliche Einschränkung anzusprechen.
Bis dahin hatten Sie genügend Gelegenheit, mit Ihrer fachlichen Kompetenz und Sympathie zu überzeugen. Sprechen Sie Ihre Krankheit direkt an und welche Konsequenzen diese im Berufsalltag mit sich bringt. Brauchen Sie mehr Ruhepausen? Müssen Sie sich häufiger alleine zurückziehen? Kosten Sie bestimmte Tätigkeiten extrem viel Kraft? Erklären Sie Ihre Situation und stellen Sie dar, welche Lösungsansätze Sie für sich gefunden haben.
Versetzen Sie sich in die Lage Ihres Gegenübers
Die Firma möchte die Stelle natürlich möglichst langfristig besetzen und möglichst wenig Arbeitsausfälle haben. Je mehr Sie demonstrieren, dass Sie bereits gute Wege gefunden haben, mit den Einschränkungen durch ihre Krankheit umzugehen, umso mehr können Sie Ihrem potenziellen Arbeitgeber diese Befürchtungen nehmen.
Wenn Sie schon länger bei der gleichen Firma arbeiten
Vielleicht hat bis jetzt noch nie jemand Ihre Gesundheit infrage gestellt. Vielleicht merken Sie aber auch, dass über Sie getuschelt wird oder Sie haben es einfach satt, nicht Ihr ganzes Selbst am Arbeitsplatz zeigen zu können. Denn es kann auch viel Energie verloren gehen, wenn Sie etwas verheimlichen, das zu Ihnen gehört. Energie, die Sie viel sinnvoller einsetzen könnten.
Trotz der Erleichterung, die nach der Offenbarung für Sie folgen kann, überlegen Sie sich aber auch genau, was gegen die Offenheit sprechen kann. Wenn Sie sich einmal geöffnet haben, können Sie nämlich nicht mehr zurück.
Was gegen eine Offenlegung Ihrer Krankheit spricht
- Angst vor Stigmatisierung
- Drohendes Mobbing durch die Kolleg*innen
- Die Befürchtung, bei Gehaltssprüngen und Beförderungen ausgelassen zu werden
- Angst vor Lästereien und unangenehmen Nachfragen durch Symptome der Krankheit
- Angst vor Ungleichbehandlung bzw. besonderer Behandlung aufgrund mangelnden Verständnisses („der darf das und wir nicht“)
- Schlechtere Job- und Karrierechancen
- Angst, die einmal ausgesprochenen Informationen nicht mehr zurücknehmen zu können
Wenn Sie schon länger in der Firma arbeiten, sollten Sie mittlerweile ein gutes Gefühl für Ihre Kolleg*innen bekommen haben. Wird über andere schlecht geredet? Wie werden Menschen mit Eigenheiten behandelt? Wird Andersartigkeit geschätzt oder gemobbt?
Natürlich müssen Sie sich auch nicht gleich der ganzen Firma öffnen. Möglicherweise ist es für Sie ein gangbarer Weg, erst einmal mit dem/der engsten Kolleg*in zu sprechen und seine/ihre Reaktion abzuwarten. Wenn Sie befürchten, wegen stark schwankender Leistungsfähigkeit als arbeitsfaul zu gelten, kann es auch schon helfen, nur Ihre Führungskraft einzuweihen. Diese ist der Verschwiegenheit verpflichtet. Allein das Gespräch mit Ihrem Chef oder Ihrer Chefin kann Ihnen die gewünschte Erleichterung bringen.
Was für eine Offenlegung Ihrer Krankheit spricht
Es ist ein gutes Gefühl, authentisch zu leben und so sein zu können, wie man ist – gerade am Arbeitsplatz, wo wir die meiste Zeit des Tages verbringen. Stigmatisierung entsteht ja gerade auch in einem Umfeld, in dem es (noch) keinen Referenzpunkt gibt, also noch niemand Ähnliches erlebt hat. Sie werden das sicherlich kennen: Sobald jemand in Ihrem Umfeld entweder selbst oder durch Bekannte bereits Berührungspunkte mit einer ähnlichen Krankheit wie Sie hatte, werden Sie auf mehr Verständnis und Mitgefühl stoßen als bei Menschen, die in ihrem Umfeld niemanden haben, der schon Erfahrung mit der Krankheit gemacht hat. Folgende Aspekte sprechen für Offenheit am Arbeitsplatz:
- Mehr Verständnis und Mitgefühl von den Kolleg*innen und der Führungskraft
- Wer sich verletzbar macht, ist ein Vorbild für andere, denen es ähnlich geht
- Das Aufrechterhalten einer Lüge kostet viel von der Energie, die Sie eigentlich zum Arbeiten bräuchten
- Sie können auf Arbeitsplatz- oder Arbeitszeitanpassungen hoffen, die mehr zu Ihren Bedürfnissen passen
- Wenn Sie authentisch leben, steigert das Ihr Selbstbewusstsein
- Sie gewinnen an Energie, weil Sie sich nicht mehr verstecken müssen
Fazit: Hören Sie auf Ihr Gefühl
Wenn Sie den mutigen Schritt gehen und sich entschließen, Ihre Krankheit öffentlich zu machen, seien Sie sich bewusst, dass es dazu unterschiedliche Reaktionen geben wird. Ihre Offenheit kann andere auch verunsichern oder vor den Kopf stoßen. Lassen Sie Ihr Umfeld deshalb mit Ihrer Diagnose nicht allein.
Klären Sie auf, wie Sie sich fühlen, welche Einschränkungen Ihre Krankheit mit sich bringt und an welcher Stelle andere mehr Rücksicht auf Sie nehmen sollen. Je mehr andere über Ihre konkreten Bedürfnisse wissen, desto besser können diese darauf eingehen.
Wenn Sie mutig genug sind und über Ihre Krankheit sprechen, ebnen Sie auch den Weg für andere, es ihnen gleich zu tun. Zuletzt ist die Frage, wie Sie mit Ihrer Krankheit in einer leistungsorientierten Gesellschaft umgehen, auch ein Henne-Ei-Problem: Ohne offene Gesellschaft traut sich niemand, sich zu öffnen. Doch ohne die Öffnung von Einzelnen macht die Gesellschaft keine Erfahrungen.
Deshalb müssen wir uns alle fragen, ob selbst betroffen oder nicht: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Hoffentlich in einer Gesellschaft, die Werte wie Authentizität und Vielfalt nicht nur als leere Floskeln nutzt, sondern diese Werte auch tatsächlich lebt.
Titelbildfoto von Magda Ehlers von Pexels
Autorin: Ute Klingelhöfer für holisticminds – schreibt Artikel für den Blog und macht komplexe Themen verständlich.